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Selbstbestimmt bis zuletzt

Sterbehilfe in der Schweiz. Vom Tabu zum Modell für Europa. Mit 36 Porträts

Wer Sterbehilfe hört, denkt an die Schweiz. Hier ist seit Langem möglich, was in den meisten Ländern verboten ist: Menschen, die ihre Leiden nicht mehr aushalten, dürfen selbstbestimmt sterben. Die Freitodhilfe ist seit Jahrzehnten von Bevölkerung, Behörden, Politik und Gesundheitswesen breit akzeptiert. Wie dies möglich geworden ist, erzählt das Buch «Selbstbestimmt bis zuletzt» in spannenden Episoden und 36 Porträts von Pionierinnen und Pionieren: Bei ihnen stand einmal mehr die Polizei vor der Tür, als sie gegen den Widerstand von Ärzten, Kirchen und Politik das Menschenrecht auf die «letzte Hilfe» erstritten.


Die Schweiz als Vorbild

Die Sterbehilfe in der Schweiz – inzwischen ein Vorbild für Europa – ist ein demokratisches Lehrstück. «Der sorgfältig vorbereitete assistierte Suizid ist keine Ideologie, sondern eine Option von vielen, für manche ein Notausgang», schreibt Karl Lüönd in seinem Buch. Alle Abstimmungen und Umfragen beweisen: Für rund drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer ist Sterbehilfe so human und vernünftig wie Geburtshilfe.


Spiegelbild des gesellschaftlichen Wandels

Die Gründung von Exit spiegelt die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen 40 Jahre wieder. Die breite Bevölkerung stellte die Allmacht der Ärzte in Frage und wollte auch beim Thema Tod auf Augenhöhe mitreden können. Das System der direkten Demokratie hat dabei die Sterbehilfe-Pioniere unterstützt, denn der Druck für Veränderung kam aus der Bevölkerung und nicht aus der Politik.


Patientenverfügung als wichtigstes Anliegen

Ein wichtiges Anliegen der Exit-Gründer war die Durchsetzung des Patientenwillens mithilfe der Patientenverfügung. So dauerte es nach der Gründung von Exit fast drei Jahre bis die erste Freitodbegleitung stattfand. Zum ersten Mal entschieden nicht mehr nur die Ärzte über lebensverlängernde Massnahmen, sondern auch die Patienten konnten ihren Willen äussern. Dank einer wirkungsvollen Informationskampagne kam das zuvor verschwiegene Thema der autonomen Lebensbeendigung zur Diskussion.


Diskussionen in Deutschland

Das schweizerische Modell der Freitodbegleitung ist insofern einzigartig, als die Suizidhilfe hauptsächlich von privaten Organisationen geleistet wird. In anderen Ländern wie Deutschland geht das Ringen um den letzten Willen der Patienten weiter. Die politische Debatte ist noch immer stark von Misstrauen gegenüber den Sterbehilfeorganisationen geprägt. Dies im Gegensatz zur Schweiz, wo es neben Exit mit fast 150’000 Mitgliedern, noch neun weitere Sterbehilfeorganisationen gibt, und die Mehrheit in der Politik der Meinung ist, dass die Menschen selbstbestimmt über ihr Lebensende entscheiden dürfen.



Leseprobe


Polizeieinsatz im Morgengrauen:
«Mitkommen, Herr Professor!»

Unterengstringen, Büelstrasse 30, ein Wohnblock wie hundert andere. Es ist Montag, der 15. Januar 1975, sechs Uhr. Das Wetter ist ungewöhnlich mild an diesem Wîntertag, es herrscht Föhn. In seiner Attikawohnung schläft Urs Peter Haemmerli (49, geschieden) noch. Bald wird er sich bereitmachen für einen langen Arbeitstag.
Da läutet die Türglocke. Von aussen ruft eine herrische Stimme: «Kantonspolizei! Aufmachen! Sofort!»
Damit beginnt eine der aufwühlendsten Affären im Schweizer Gesundheitswesen der Nachkriegszeit. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod.
Haemmerli öffnet die Tür. Bewaffnete Polizisten in kugelsicheren Westen halten ihn fest und stürmen in die gepflegte Wohnung. Andere suchen nach Waffen und nehmen diese mit, darunter Haemmerlis Prachts- und Sammlerstück, eine Barockflinte mit Elfenbeinintarsien. Sie hängt, längst nicht mehr schussbereit, als Schmuck an der Wand.
«Mitkommen!» Nochmals dieser scharfe Befehlston! Haemmerli zieht sich an. In beschleunigtem Tempo, aber sorgfältig wie jeden Morgen bindet er die Krawatte.
Auf dem Haftbefehl, den der Kommandoführer dem hochgewachsenen Mann unter die Nase hält, steht «fahrlässige Tötung».
Haemmerli ist Überraschungen und Stresssituationen gewohnt. Er bleibt ruhig, obwohl ihn der Vorwurf «wie ein Blitz» getroffen hat, wie er später berichtet. Wenigstens bleiben ihm die Handschellen erspart, und er darf er noch sein Büro anrufen, wo er schon lange erwartet wird. Professor Dr. Urs Peter Haemmerli ist der Chefarzt der Medizinischen Klinik am Stadtspital Triemli, einem der grössten Krankenhäuser der Schweiz.
Der Tross setzt sich stadtwärts in Bewegung. Der Verhaftete steuert seinen silbergrauen Ford Mustang selber. Zwei Polizisten haben sich zu ihm ins Auto gesetzt. Haemmerli hat sich nur für den Vormittag abgemeldet, denn er rechnet mit einer schnellen Aufklärung.
Später berichtete der Arzt im privaten Kreis, er sei völlig überrumpelt worden und habe keine Ahnung gehabt, worum es überhaupt gehen könnte. Er habe an ein Missverständnis geglaubt.


Spezialist für schwierige Fälle

Urs Peter Haemmerli, Junggeselle, Workaholic, Sammler von Ikonen, Sporttaucher und Flugwildjäger gilt als internationale Kapazität für schwierige Fälle in seinem Spezialgebiet, der Gastroenterologie. Zugleich ist er bekannt für seine direkte, manchmal schroffe Ausdrucksweise. Die hat er sich in langen Fortbildungsjahren in Amerika angeeignet. Leute wie ihn nennt man dort «outspoken».
Das Stadtspital Triemli gibt es erst seit fünf Jahren, aber seine Medizinische Klinik hat sich bereits einen internationalen Ruf erworben. In der Privatabteilung von Prof. Haemmerli liegt gerade eine Multimillionärin aus Brasilien mit einer noch ungeklärten, aber schweren und schmerzhaften Erkrankung. Nach einer Irrfahrt durch europäische Klinken hat ihr ein deutscher Professor den Rat gegeben: Wenn jemand helfen kann, dann ist es Haemmerli in Zürich. Der gilt als Spezialist für seltene innere Erkrankungen. Die Frau sagt später zu Journalisten, ihr gehe es in Zürich zum ersten Mal seit Monaten wieder besser.
Stundenlang verhört Bezirksanwalt (Untersuchungsrichter) Hans-Ruedi Müller den Chefarzt; dann nimmt er sich Oberärzte, Assistenten und Pflegefachfrauen vor. Alle erhalten von der Spitalleitung ein strenges Redeverbot gegenüber Aussenstehenden, insbesondere den Medien. Bei Zuwiderhandlung wird mit Entlassung gedroht. Auf Müllers Liste stehen über hundert Namen. Von Montagmorgen bis Freitagmittag bleibt der Professor in Haft.
Unter den Augen der Polizisten darf Haemmerli kurz sein Büro aufräumen, sich aber nicht von seinen Mitarbeitern verabschieden. Ein Oberarzt erinnert sich: «Als ich ihm im Korridor begegnete, sagte er mir nur: ‚Kämpfen, kämpfen!’»
Am Mittwochnachmittag, 36 Stunden nach der Verhaftung des Chefarztes, tritt Stadträtin Regula Pestalozzi vor den Gemeinderat der Stadt Zürich, das Gemeindeparlament, das sich immer an diesem Wochentag im historischen Rathaus an der Limmat zur Sitzung trifft. Sie ist verantwortlich für das Gesundheitswesen und gibt bekannt, Chefarzt Prof. Haemmerli sei in seinem Amt eingestellt worden. Die Gemeinderäte von links bis rechts sind fassungslos.
Zur gleichen Stunde lässt die Bezirksanwaltschaft (Untersuchungsrichteramt) Zürich, Büro 7 verlauten, dass auf eine Anzeige des Gesundheitsvorstands Pestalozzi hin eine Strafuntersuchung wegen des Verdachts auf vorsätzliche Tötung eingeleitet worden sei. «Es besteht der Verdacht, dass durch das inkriminierte Vorgehen der Tod dieser Patienten beschleunigt werden sollte.»
Diese Patienten sind seit Monaten gelähmt und bewusstlos; es besteht keinerlei Aussicht auf Heilung. Wochen zuvor hat Prof. Haemmerli in einem Gespräch mit Stadträtin Pestalozzi eindringlich reklamiert, es herrsche in seiner Abteilung alarmierender Platzmangel. Zeitweise stünden die Betten mit Schwerkranken auf den Korridoren, weil alle Zimmer belegt sind. Nun will der Chefarzt gehörig Druck machen, damit die Politikerin die Platzverhältnisse in der Klinik überprüfe. Und wie immer nimmt er kein Blatt vor den Mund. Seiner Vorgesetzten sagt er, er sei nun dazu übergegangen, hoffnungslos kranken Patienten im letzten Stadium nur noch «leeres Wasser» zuzuführen. Damit wollte er sagen: kalorienfreie Flüssigkeit.
Hat er sich zu direkt ausgedrückt, so dass die Politikerin Angst bekam?
In der Tat: Frau Pestalozzi erschrickt. Sie bespricht sich mit dem Staatsanwalt und erstattet schliesslich Anzeige, allerdings erst mehrere Wochen nach dem Gespräch mit dem Chefarzt. Dabei beruft sie sich auf eine Bestimmung im kantonalen Beamtengesetz, wonach eine Amtsperson, die in ihrer amtlichen Funktion Kenntnis von einer Straftat erhält, zur Anzeige verpflichtet ist.


Schlagzeilen in ganz Europa:
Der Beginn einer grossen Debatte

«Tausende von Anrufern blockierten gestern die Telefonzentrale des Triemli-Spitals» berichtet die Boulevardzeitung Blick am 17. Januar 1975. «Die Mehrzahl wollte ihre Sympathien für Prof. Haemmerli zum Ausdruck bringen.» In Haemmerlis Büro trafen in den folgenden Tagen hunderte von unterstützenden Briefen ein. Reporter aus halb Europa drängten auf Interviews. Medizinische Fachgesellschaften im In- und Ausland nahmen Stellung, am deutlichsten der Ehrenrat der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich. Dessen Präsident Dr. Felix Fierz liess sich wie folgt zitieren: «Wenn das wirklich so passiert ist, wie es von Frau Dr. Pestalozzi dargestellt wird, müssen viele Leute im Spital davon gewusst haben, und zwar über längere Zeit. Der Chef allein kann das nicht machen. Was da geschehen ist, ist Ausdruck eines echten, tief gehenden Problems.»
Dr. Fierz widersprach ausserdem der Auffassung, der Fall Haemmerli sei etwas Aussergewöhnliches. Er sagte, dass wahrscheinlich auch in vielen anderen Kliniken der Schweiz ähnlich verfahren werde. Bei der von Haemmerli angewandten «Null-Kalorien-Ernährung» würden die Lebensfunktionen langsam abgeschwächt; der Patient sei dann «wie eine verlöschende Flamme». Er spüre kaum Beschwerden.
Auch als er wieder ein freier Mann war, hielt sich Haemmerli zunächst, wohl auf Rat seines Anwalts, mit öffentlichen Äusserungen zurück. Er sagte, er wolle die Aussagen seiner Untergebenen vor dem Untersuchungsrichter nicht beeinflussen und erklärte nur: «Ich stehe voll und ganz zu dem, was ich getan habe, und ich habe nichts getan, was ich nicht auch bei meiner Mutter oder meinem Vater getan hätte, wenn es richtig und nötig gewesen wäre.» Später betonte er: «Ich habe nie aktive Sterbehilfe betrieben.»
Stadträtin Pestalozzi geriet unter Druck. Ihre Erklärungen wirkten schwach und formalistisch: «Ich hatte keine politischen Beweggründe ausser dem einzigen, dass in einem öffentlichen Spital nichts vorkommen darf, was verboten ist. In dieser Frage gehen eben die Ethik des Arztes und die Ethik der Juristen weit auseinander. Ich bin Juristin, war lange Zeit Anwältin und kann diesen Fall nur juristisch sehen.»
Zehn Tage nach seiner Verhaftung, am 25. Januar 1975 gab Prof. Haemmerli seine Zurückhaltung auf und erklärte:
«Ich bin überwältigt. Sehr viele alte Leute haben mir geschrieben, auch Verwandte von Patienten, die ich einmal behandelt habe und natürlich auch Kollegen aus dem In-und Ausland. Eine 74jährige Frau, die nach eigener Aussage nicht mehr lange zu leben hat, schrieb: «Ich wünsche mir vor meinem Tod nur noch, dass ich in den letzten Tagen meines Daseins von Ihnen oder einem gleichgesinnten Arzt behandelt werde.»
Die geschickte Verknüpfung von Problem und Einzelschicksal, die rührende Erwähnung von Vater und Mutter: Auf einmal präsentierte sich der in der öffentlichkeit zuvor unbekannte, in der Klinik für seine Direktheit gefürchtete Professor als einfühlender Arzt, als nahbarer Mensch, als guter Sohn.
Diese Vertiefung der Problemgeschichte zur menschlichen Seite hin entstand unter der Regie der politisch versierten PR-Agentur Farner, die von Freunden Haemmerlis mobilisiert worden war. Und sein Anwalt war nicht irgendeiner, sondern der berühmte Walter Baechi, der den Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler in Dutzenden von Verfahren vertreten hatte und der sieben Jahre später als Mitgründer und erster Präsident der Vereinigung Exit für humanes Sterben hervortreten sollte. Der damalige Mandatsleiter bei Farner erinnert sich, Haemmerli sei vom Andrang der Medien überfordert gewesen und habe nicht nur Beratung, sondern auch Zuspruch gebraucht.


Legalisierung der aktiven Sterbehilfe gefordert

Möglicherweise war es ebenfalls der klugen Strategie Baechis und der Agentur Farner geschuldet, dass ausgerechnet zur gleichen Zeit bekannt wurde, die vom politischen Establishment längst vergessene und allgemein als aussichtslos beurteilte kantonale Volksinitiative des kaufmännischen Lehrlings Rolf Wyler für aktive Sterbehilfe, die rund sechs Monate vor der Verhaftung von Prof. Haemmerli lanciert worden war, sei zustande gekommen. Über 5 300 Stimmberechtigte verlangten, der Kanton Zürich solle beim eidgenössischen Parlament eine Standesinitiative einreichen, damit Artikel 114 des Schweizerischen Strafgesetzbuches so geändert werde, dass ein Arzt das Leben eines Patienten auf dessen Verlangen hin dann beenden dürfe, wenn dieser an einer unheilbaren, schmerzhaften und mit Sicherheit zum Tode führenden Krankheit leidet.
Zwei Wochen nach der Verhaftung von Prof. Haemmerli kürzte der Basler Nationalrat Walter Allgöwer vom linksliberalen Landesring der Unabhängigen das Verfahren ab und reichte eine parlamentarische Einzelinitiative ein. Darin verlangte er die Anerkennung des «Rechts auf passiver Sterbehilfe» oder gar das «Recht auf den eigenen Tod» in der Bundesverfassung und die Festlegung der dafür erforderlichen Bedingungen.
Das Thema war in der eidgenössischen Politik angekommen. Damit hatten der Lehrling Rolf Wyler und die diskreten Agenda-Setter im Hintergrund schon mehr erreicht, als sie je hatten erwarten können. Später kam es aber nie zu einer grundsätzlichen Debatte im National- oder im Ständerat.
Prof. Haemmerli ging als Sieger und Respektsperson aus der Affäre hevor. Nach einigen Monaten wurde die Strafuntersuchung gegen ihn eingestellt. Regula Pestalozzi dagegen wurde von den Stimmberechtigten regelrecht gemassregelt. 1975 wurde sie aus dem Kantonsrat (Kantonsparlament) und 1978 aus dem Stadtrat von Zürich abgewählt.


Karl Lüönd:
Selbstbestimmt bis zuletzt
Sterbehilfe in der Schweiz. Vom Tabu zum Modell für Europa. Mit 36 Porträts
nzz-libro.ch, 315 Seiten, 36 Abbildungen, ISBN: 978-3-907291-46-7, Fr. 36.--


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